Einleitung: Der Kürzeste Traum im Tempel der Geschwindigkeit
Der 12. September 1993. Über dem Autodromo Nazionale di Monza liegt die flirrende Hitze des Spätsommers, eine Atmosphäre, die ebenso von Erwartung wie von Benzin und verbranntem Gummi gesättigt ist. Die Tribünen sind ein Meer aus Rot, ein pulsierendes Zeugnis der Leidenschaft der Tifosi. Auf der Startaufstellung brüllen die V10- und V12-Motoren der technologisch fortschrittlichsten Ära der Formel 1 eine ohrenbetäubende Symphonie der Leistung. An der Spitze stehen die überlegenen Williams-Renaults von Alain Prost und Damon Hill, doch weiter hinten im Feld, auf dem 23. Startplatz, sitzt ein 27-jähriger Italiener in einem grün-blauen Boliden mit der Startnummer 15. Sein Name ist Marco Apicella, und für ihn ist dieser Moment die Erfüllung eines jahrzehntelangen Traums: sein Debüt in der Formel 1, und das ausgerechnet bei seinem Heim-Grand-Prix in Monza.
Was Apicella in diesem Moment nicht wissen kann, ist, dass sein Name für immer in die Annalen des Sports eingehen wird, jedoch nicht für einen heldenhaften Sieg oder eine spektakuläre Überholung. Seine gesamte Formel-1-Rennkarriere, das Ergebnis unzähliger Opfer und unermüdlicher Anstrengungen, wird nur etwa 800 Meter dauern. Ein Wimpernschlag, eine flüchtige Präsenz, die in der ersten Schikane in einer Wolke aus Karbonfasersplittern und enttäuschten Hoffnungen endet. Er hält den unglücklichen Rekord für eine der kürzesten Karrieren in der Geschichte der Formel 1, eine kuriose Fußnote, die oft als tragische Anekdote abgetan wird.
Doch diese Statistik, so prägnant sie auch sein mag, ist nur der explosive Endpunkt einer weitaus komplexeren und fesselnderen Geschichte. Sie erzählt nichts über den langen, steinigen Weg, der ihn überhaupt erst in das Cockpit des Sasol Jordan-Hart führte. Sie verschweigt den talentierten und widerstandsfähigen Rennfahrer, der sich in den härtesten Nachwuchsklassen Europas und Japans bewiesen hatte. Und sie ignoriert die bemerkenswerte Professionalität, mit der er auf diesen niederschmetternden Rückschlag reagierte. Die wahre Geschichte von Marco Apicellas Formel-1-Debüt ist keine bloße Kuriosität; sie ist ein tiefgründiges Lehrstück über die brutale und oft unfaire Natur des Spitzenmotorsports. Es ist die Geschichte der längsten Reise zur kürzesten Karriere und wie ein Moment des Pechs paradoxerweise eine Form von Unsterblichkeit verleihen kann. Denn während ein unauffälliges Rennen im Mittelfeld ihn dem Vergessen preisgegeben hätte, machten ihn diese 800 Meter unvergesslich.
Der Lange Weg nach Monza: Apicellas Odyssee durch die Nachwuchsklassen
Um die Ereignisse von Monza 1993 vollständig zu verstehen, muss man die Person Marco Apicella nicht als Formel-1-Neuling betrachten, sondern als erfahrenen und kampferprobten Profi, der sich seinen Platz auf der Weltbühne hart erarbeitet hatte. Seine Karriere war ein Musterbeispiel für Talent, Ausdauer und die Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, um den Traum von der Königsklasse am Leben zu erhalten.
Frühes Versprechen in Italien
Apicellas Reise begann, wie so viele, im Kartsport, bevor er 1984 den Sprung in die hart umkämpfte italienische Formel-3-Meisterschaft wagte. In einem Feld, das mit zukünftigen Formel-1-Fahrern wie Nicola Larini, Alex Caffi und Gabriele Tarquini gespickt war, bewies er sofort seine Geschwindigkeit, auch wenn er anfangs als etwas ungestüm galt. Bereits in seiner zweiten Saison, 1985, sicherte er sich mit dem Coperchini-Team zwei Siege und belegte den vierten Platz in der Meisterschaft. Der endgültige Durchbruch in seiner Heimat gelang ihm 1986. An der Seite des hochtalentierten Nicola Larini im dominanten Dallara des Coloni-Teams, beendete Apicella die Saison als Vizemeister hinter seinem Teamkollegen. Diese Leistungen etablierten ihn als einen der vielversprechendsten jungen Fahrer Italiens und machten den nächsten Schritt auf der Karriereleiter unausweichlich.
Der zermürbende Kampf in der Internationalen Formel 3000
1987 stieg Apicella in die Internationale Formel 3000 auf, die damals als die direkte Vorstufe zur Formel 1 galt. Diese Phase seiner Karriere sollte sich als eine lange und oft frustrierende Prüfung seiner Entschlossenheit erweisen. Über fünf Saisons hinweg, von 1987 bis 1991, wurde er zu einer festen Größe im Fahrerlager, zu einem „Serienveteranen“, der für seinen Speed bekannt war, dem der letzte Schritt zum Sieg jedoch verwehrt blieb.
Seine beste Saison erlebte er 1989 mit dem Team FIRST Racing. Er beendete die Meisterschaft auf einem starken vierten Gesamtrang, hinter einem Trio, das bald in der Formel 1 für Furore sorgen sollte: Jean Alesi, Erik Comas und Éric Bernard. Dieses Ergebnis bewies, dass Apicella auf höchstem Niveau konkurrenzfähig war. Dennoch haftete ihm ein Makel an: Trotz zahlreicher Podiumsplätze und sieben zweiten Plätzen gelang es ihm nie, ein Rennen in der europäischen Top-Serie zu gewinnen. Er hält den zweifelhaften Rekord, mehr Rennen in der Internationalen Formel 3000 bestritten zu haben als jeder andere Fahrer ohne Sieg. Während dieser Zeit blieb er jedoch auf dem Radar der Formel-1-Teams. Tests für Minardi und Modena zeugten von seinem anerkannten Potenzial, führten aber nie zu einem festen Cockpit.
Karriere-Wiederbelebung in Japan
Nach einer enttäuschenden Saison 1991 mit dem Team von Paul Stewart schien Apicellas Weg in die Formel 1 in einer Sackgasse zu enden. Anstatt aufzugeben, traf er eine mutige und karriereentscheidende Entscheidung: Er verließ Europa und wechselte 1992 in die hoch angesehene und finanziell gut ausgestattete japanische Formel-3000-Meisterschaft, wo er beim renommierten Dome-Team anheuerte.
Dieser Schritt erwies sich als goldrichtig. In den späten 80er und frühen 90er Jahren war die japanische Motorsportszene zu einem wichtigen Schmelztiegel für internationale Talente geworden. Fahrer, deren Karrieren in Europa ins Stocken geraten waren, fanden hier eine neue Chance, sich in professionellen Teams und mit konkurrenzfähigem Material zu beweisen. Apicella nutzte diese Gelegenheit perfekt. Befreit vom Druck und den oft ungleichen Bedingungen der europäischen Szene, fand er sofort zu seiner alten Form zurück. Bereits in seiner ersten Saison 1992 gewann er das Rennen in Autopolis und beendete das Jahr als bester Fahrer seines Teams. Im darauffolgenden Jahr steigerte er sich weiter, siegte auf dem Sugo Race Circuit und etablierte sich als einer der Top-Fahrer der Serie.
Diese Erfolge in Japan, in einem Feld, das auch zukünftige Formel-1-Größen wie Eddie Irvine umfasste, waren mehr als nur gute Ergebnisse. Sie waren eine eindrucksvolle Bestätigung seines Talents und bewiesen, dass er, ausgestattet mit dem richtigen Material, ein Siegfahrer war. Es war genau diese wiedererlangte Reputation, die die Aufmerksamkeit eines irischen Teamchefs auf sich zog und den Weg für einen unerwarteten Anruf ebnete.
Ein Anruf von Eddie Jordan: Die Unerwartete Chance
Die Formel-1-Saison 1993 war für das aufstrebende Team von Eddie Jordan eine des Umbruchs. Nach einem sensationellen Debütjahr 1991 hatte das Team Schwierigkeiten, an die anfänglichen Erfolge anzuknüpfen. Die Fahrerpaarung für 1993 bestand aus dem jungen, hochtalentierten Brasilianer Rubens Barrichello und dem erfahrenen belgischen Veteranen Thierry Boutsen. Doch die Partnerschaft war nicht von Erfolg gekrönt. Nach dem Großen Preis von Belgien, dem zwölften Rennen der Saison, zog Boutsen einen Schlussstrich unter seine zehnjährige Formel-1-Karriere und verließ das Team mit sofortiger Wirkung. Plötzlich war bei Jordan ein Cockpit frei.
Der Deal
Für Apicella, der sich gerade mitten in seiner erfolgreichen Saison in der japanischen Formel 3000 befand, kam die Gelegenheit aus heiterem Himmel. Er erhielt einen Anruf von Eddie Jordan persönlich. Die Verhandlungen waren kurz und pragmatisch, wie Apicella später berichtete: „Eddie Jordan rief mich an und fragte, ob ich in Monza fahren wolle. Er sagte mir, was er wollte, und wir machten den Deal in ein paar Minuten klar“.
Die Bedingungen des Deals offenbaren die finanziellen Realitäten eines Formel-1-Mittelfeldteams dieser Ära. Es handelte sich nicht um einen Vertrag, der allein auf Talent basierte, sondern um eine gesponserte Fahrt. Apicella musste selbst einen Sponsor finden, um die Kosten für den Einsatz zu decken, die sich auf eine relativ bescheidene Summe von etwa 20.000 Pfund beliefen. Für Jordan war diese Vereinbarung eine clevere, risikoarme Lösung. Er füllte das vakante Cockpit für das prestigeträchtige Rennen in Monza mit einem italienischen Fahrer, der über aktuelle Erfolge verfügte und zudem Sponsorengelder mitbrachte. Dies sorgte für positive PR und deckte die Kosten, ohne eine langfristige Verpflichtung einzugehen. Apicella war im Grunde ein „Monza-Spezialist“, der für einen einmaligen Einsatz angeheuert wurde.
Eine Einmalige Gelegenheit
Von Anfang an war klar, dass es sich um eine einmalige Chance handelte. Eddie Jordan nutzte die Gelegenheit, um verschiedene Fahrer zu evaluieren, und Apicella bestätigte: „Jordan fragte mich nur für Monza an“. Diese Tatsache legte einen enormen, fast unerträglichen Druck auf die Schultern des Italieners. Er hatte genau ein Wochenende, ein einziges Rennen – ausgerechnet sein Heimrennen vor den Augen der Tifosi – um sein gesamtes Können zu demonstrieren und sich für weitere Einsätze zu empfehlen. Es war eine klassische „Alles-oder-Nichts“-Situation, die seine Vorbereitung auf das wichtigste Wochenende seiner Karriere von Beginn an überschattete.
Ein Wochenende unter Hochdruck: Apicella im Jordan 193
Die Herausforderungen für Marco Apicella begannen lange vor dem Erlöschen der roten Ampeln am Sonntag. Das gesamte Wochenende war geprägt von dem Kampf, sich an ein für ihn fremdes Auto unter schwierigen Bedingungen und mit dem Wissen anzupassen, dass es keine zweite Chance geben würde.
Erste Schwierigkeiten
Schon bei einem kurzen Test in Imola in der Woche vor dem Grand Prix bekam Apicella einen Vorgeschmack auf die bevorstehenden Schwierigkeiten. „Ich konnte kein gutes Gefühl für das Auto entwickeln“, gab er zu. Der Jordan 193, angetrieben von einem Hart-V10-Motor, war speziell für die Hochgeschwindigkeitsanforderungen von Monza konfiguriert, mit einem extremen Low-Downforce-Setup. Dies machte das Auto auf den Geraden schnell, aber in den Kurven nervös und schwer zu kontrollieren.
Zwei technische Aspekte stellten sich als besondere Hürden heraus. Erstens waren die Goodyear-Reifen in der Formel 1 von einer deutlich härteren Mischung als die Pneus, die er aus der japanischen Formel 3000 gewohnt war. Das Ergebnis war ein signifikant geringeres Grip-Niveau, was sein Vertrauen in das Auto untergrub. Zweitens war es für Apicella das erste Mal, dass er ein Rennauto mit einem halbautomatischen Getriebe fuhr, eine weitere technische Neuerung, an die er sich in kürzester Zeit gewöhnen musste.
Training und Qualifying
Als das Rennwochenende offiziell begann, wurden die Bedingungen nicht einfacher. Die Trainingssitzungen wurden durch feuchte Streckenverhältnisse erschwert, die das ohnehin schon geringe Grip-Niveau weiter reduzierten. Diese tückischen Bedingungen forderten ihren Tribut: Während des Trainings verlor Apicella die Kontrolle über seinen Jordan und drehte sich auf dem nassen Asphalt in der zweiten Lesmo-Kurve. Dieser Zwischenfall war ein klares Zeichen für seinen Kampf, die Grenzen des Autos zu finden, ohne sie zu überschreiten.
Im Qualifying spiegelte sich dieser Kampf wider. Apicella qualifizierte sich auf dem 23. Startplatz, eine Position, die auf dem Papier enttäuschend wirken mag. Doch die Umstände liefern einen entscheidenden Kontext. Die Strecke trocknete während der Session langsam ab. Sein hoch angesehener Teamkollege Rubens Barrichello fuhr seine schnellste Runde später in der Session, als die Bedingungen bereits besser waren. Trotzdem betrug Apicellas Rückstand auf Barrichello nur etwa eine halbe Sekunde – eine respektable Leistung angesichts seiner Unerfahrenheit mit dem Auto und den schwierigen Verhältnissen.
Die Psychologische Last
Über all diesen technischen und fahrerischen Herausforderungen schwebte die immense psychologische Belastung. Apicella fasste seine Gefühlslage treffend zusammen: „Ich stand unter großem Druck, weil ich wusste, dass es nur eine Chance gab und ich mich im Auto nicht wohlfühlte“. Die Freude über das Debüt beim Heimrennen wurde von der erdrückenden Last der Erwartungen und der unbequemen Realität, nicht optimal vorbereitet zu sein, überschattet. Sein Eingeständnis, dass „Suzuka für mich viel besser gewesen wäre“ – eine Strecke, die er aus Japan bestens kannte – unterstreicht, wie sehr er sich in Monza außerhalb seiner Komfortzone befand.
Chaos in der Rettifilo: Der Grand Prix von Italien 1993
Der Große Preis von Italien 1993 sollte als ein Rennen voller Dramen, Wendungen und unvergesslicher Momente in die Geschichte eingehen. Für Marco Apicella endete er jedoch, bevor er richtig begonnen hatte, als unschuldiges Opfer des berüchtigten Startchaos im „Tempel der Geschwindigkeit“.
Der breitere Rennkontext
An der Spitze des Feldes startete das Rennen mit einem Paukenschlag. Alain Prost im Williams-Renault kam von der Pole-Position gut weg, doch hinter ihm entbrannte sofort ein harter Kampf. Sein Teamkollege Damon Hill und der legendäre Ayrton Senna im McLaren kollidierten bereits in der ersten Schikane, der Variante del Rettifilo. Hill konnte das Rennen fortsetzen, fiel aber weit zurück, während Senna später nach einer weiteren Kollision mit Martin Brundle ausscheiden sollte. Dieser Vorfall an der Spitze war nur ein Vorgeschmack auf das Chaos, das sich weiter hinten im Feld abspielte.
Die Massenkarambolage im Mittelfeld
Die erste Schikane in Monza ist seit jeher ein Nadelöhr, in dem die Hoffnungen vieler Fahrer schon in den ersten Sekunden eines Rennens begraben wurden. Im Jahr 1993 war dies nicht anders. Während die Kameras auf die Spitzenpiloten gerichtet waren, kam es im dichten Mittelfeld zu einer verheerenden Kettenreaktion, die aus zwei separaten, aber miteinander verknüpften Zwischenfällen bestand.
Zuerst kollidierten die beiden Footwork-Teamkollegen Derek Warwick und Aguri Suzuki miteinander, was für beide das sofortige Aus bedeutete. Unmittelbar danach ereignete sich der entscheidende Vorfall für Apicella. Der Sauber-Fahrer JJ Lehto, der vom Ende des Feldes starten musste, löste eine zweite Kollision aus. In dem Versuch, in der engen Schikane Positionen gutzumachen, geriet sein Auto außer Kontrolle und riss die beiden unglücklichen Jordan-Fahrer – Rubens Barrichello und Marco Apicella – mit sich ins Verderben. Für insgesamt fünf Fahrer war der Grand Prix an dieser Stelle beendet, noch bevor die erste Runde absolviert war.
Ein Opfer der Umstände
Es ist von entscheidender Bedeutung festzuhalten, dass Marco Apicella bei diesem Vorfall keinerlei Fehler machte. Er war schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Tatsache, dass auch sein hochtalentierter Teamkollege Barrichello in denselben Unfall verwickelt war, unterstreicht, dass dies kein typischer Fehler eines nervösen Debütanten war, sondern pures Pech. Apicellas Schicksal ist ein Paradebeispiel für die völlige Abwesenheit von Handlungsfähigkeit, die ein Fahrer in einem solchen Moment hat. Nach einem Jahrzehnt der Vorbereitung, des Kampfes und der Entbehrungen wurde seine einzige Chance in der Formel 1 nicht durch einen Fahrfehler, einen technischen Defekt oder mangelnde Geschwindigkeit zunichtegemacht, sondern durch die unkontrollierbaren Aktionen eines anderen Fahrers in einer chaotischen Kettenreaktion. Sein Rennen war vorbei, bevor er auch nur eine einzige sinnvolle Aktion am Steuer seines Wagens hatte ausführen können.
Während das Rennen für Apicella beendet war, ging es für die verbliebenen Fahrer dramatisch weiter. Prost schien auf dem Weg zu einem sicheren Sieg und dem vorzeitigen Gewinn seines vierten Weltmeistertitels, als nur fünf Runden vor Schluss sein Renault-Motor spektakulär den Geist aufgab. Dies ebnete den Weg für Damon Hills dritten Sieg in Folge. Der vielleicht denkwürdigste Moment des Rennens ereignete sich jedoch auf der Ziellinie, als der Minardi-Fahrer Christian Fittipaldi nach einer Berührung mit seinem Teamkollegen Pierluigi Martini einen atemberaubenden Rückwärtssalto vollführte und auf allen vier Rädern landete, um die Linie zu überqueren. Inmitten all dieser denkwürdigen Ereignisse blieb Apicellas flüchtiger Auftritt eine tragische Randnotiz eines unvergesslichen Grand Prix.
Nach dem Rennen: Resilienz und der Triumph in Japan
Die unmittelbare Folge des Rennens in Monza war für Marco Apicella ernüchternd und bestätigte die gnadenlose Natur des Formel-1-Geschäfts. Seine Reaktion auf diesen Rückschlag sollte jedoch den wahren Charakter eines Champions offenbaren und seine Karriere auf eine Weise definieren, die sein 800-Meter-Rennen niemals hätte können.
Die Drehtür bei Jordan
Wie von Anfang an vereinbart, war Apicellas Einsatz ein einmaliges Geschäft. Eddie Jordan setzte seine Evaluierung potenzieller Fahrer fort, ohne Apicella eine zweite Chance zu geben. Für das nächste Rennen in Portugal wurde das Cockpit an einen anderen Italiener, Emanuele Naspetti, vergeben. Für die letzten beiden Saisonrennen in Japan und Australien erhielt dann ein vielversprechender junger Fahrer namens Eddie Irvine die Gelegenheit, der sie eindrucksvoll nutzte, um eine lange und erfolgreiche Formel-1-Karriere zu starten. Apicellas Formel-1-Traum war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte, ein Opfer der schnelllebigen und unsentimentalen Fahrerpolitik im Mittelfeld.
Die Ultimative Rechtfertigung
Ein geringerer Charakter wäre an einer solchen Enttäuschung vielleicht zerbrochen. Doch Apicella bewies eine außergewöhnliche mentale Stärke. Anstatt in der Versenkung zu verschwinden, kehrte er 1994 dorthin zurück, wo er zuletzt erfolgreich war: in die japanische Formel-3000-Meisterschaft mit dem Dome-Team. Was folgte, war nicht nur eine erfolgreiche Saison, sondern eine absolute Machtdemonstration. Apicella dominierte die Meisterschaft, errang drei Siege und sicherte sich souverän den Titel.
Dieser Meisterschaftssieg im Jahr unmittelbar nach seinem unglücklichen Formel-1-Debüt ist der wichtigste und aussagekräftigste Erfolg seiner gesamten Karriere. Er war eine direkte und unmissverständliche Antwort auf jegliche Zweifel an seinen Fähigkeiten. Hätte man seine Formel-1-Karriere isoliert betrachtet, hätte man fälschlicherweise schlussfolgern können, er sei der Herausforderung nicht gewachsen gewesen. Der Gewinn einer so hart umkämpften Meisterschaft bewies jedoch das genaue Gegenteil. Er zeigte, dass Apicella über die Geschwindigkeit, die Konstanz und die mentale Stärke verfügte, die einen Spitzenfahrer ausmachen. Der Titel von 1994 war somit eine definitive Widerlegung des Urteils, das die 800 Meter von Monza über ihn gefällt zu haben schienen. Es war die ultimative professionelle Rechtfertigung, die bewies, dass sein Scheitern in der Formel 1 nicht auf mangelndes Talent, sondern ausschließlich auf extremes Pech zurückzuführen war.
Ein langer und vielfältiger Karriereweg
Obwohl er nie in die Formel 1 zurückkehrte, blieb Apicella dem Motorsport auf höchstem Niveau treu. Er blieb dem F1-Zirkus nahe, als er im Winter 1996 den Prototypen des nie realisierten Dome F1-Projekts testete, ein Zeichen dafür, dass sein Talent weiterhin hochgeschätzt wurde. Seine weitere Karriere führte ihn erfolgreich in den Sportwagen- und GT-Rennsport, insbesondere in Japan, wo er zu einer festen Größe in der japanischen GT-Serie wurde und bis weit in die 2000er Jahre hinein aktiv Rennen fuhr. Diese Langlebigkeit zeugt von einer tiefen und ungebrochenen Leidenschaft für den Rennsport, die weit über den flüchtigen Moment in Monza hinausging.
Fazit: Das Vermächtnis der 800 Meter
Marco Apicellas Name ist in der Formel 1 untrennbar mit der Zahl 800 verbunden. 800 Meter, die eine ganze Karriere definieren und ihn zur Antwort auf eine beliebte Trivia-Frage machen. Doch ihn auf diese eine, unglückliche Statistik zu reduzieren, würde der Komplexität seiner Geschichte und der Tiefe seines Talents nicht gerecht werden. Sein Vermächtnis ist weitaus vielschichtiger und aussagekräftiger.
Er sollte als ein Fahrer in Erinnerung bleiben, der sich über ein Jahrzehnt durch die härtesten Nachwuchsklassen kämpfte, der in Italien als großes Versprechen galt und der in Japan die Siege und den Titel errang, die ihm in Europa verwehrt geblieben waren. Er war ein Profi, der sich eine einmalige Chance unter enormem Druck bei seinem Heimrennen erarbeitete, nur um sie durch einen unverschuldeten Unfall in der ersten Kurve zu verlieren. Vor allem aber war er ein Beispiel für außergewöhnliche Resilienz, der auf den Tiefpunkt seiner Karriere mit dem größten Triumph antwortete und bewies, dass ein einziger Moment des Pechs nicht das Maß für das Können eines Sportlers sein darf.
Seine Geschichte ist ein perfekter Mikrokosmos der brutalen Realitäten der Formel 1. Sie zeigt auf, wie entscheidend Glück, Timing und finanzielle Unterstützung oft sind und wie diese Faktoren reines Talent in den Schatten stellen können. Er steht symbolisch für die unzähligen „Was wäre wenn“-Geschichten des Motorsports, für all jene Fahrer, deren volles Potenzial auf der größten Bühne aufgrund von Umständen, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen, nie ausgeschöpft werden konnte.
Wenn man heute auf den Großen Preis von Italien 1993 zurückblickt, erinnert man sich an Damon Hills Sieg, an Prosts Motorschaden und an Fittipaldis spektakulären Salto. Doch im Schicksal von Marco Apicella verdichtet sich die Essenz des Sports vielleicht am reinsten: die unvorstellbare Nähe von Traum und Albtraum, von Triumph und Tragödie. Ein Jahrzehnt der Hingabe, des Opfers und des Erfolgs, das in wenigen chaotischen Sekunden gipfelte. Und doch, in einer seltsamen Wendung des Schicksals, sicherten ihm genau diese wenigen Sekunden einen festen, wenn auch unkonventionellen Platz im reichen und oft grausamen Mosaik der Formel-1-Geschichte.
Schreibe einen Kommentar